Also, das war so. Am Freitag um 5 rief mich eine Ullstein-Lektorin aus Leipzig an. Um den Gedichtband ihres dänisch-palästinensischen Autors Yahya Hassan gäbe es sehr viel Aufmerksamkeit, auch jede Menge Interviews.
Ein Gedicht des Autors sei bisher nur in der dänischen Tageszeitung Politiken veröffentlicht.
Der Journalist der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung habe den jungen Mann (18!) interviewt und sei so beeindruckt von ihm, er wollte gern für seinen Artikel das Gedicht haben. Natürlich übersetzt.
Ob ich?
Ich hatte den zornigen jungen Mann – wie gesagt, 18! – in Kopenhagen auf der Buchmesse erlebt, da bekam er den Debütantenpreis. Wegen seiner Gedichte, in denen er schonungslos seine Mit-Migranten an den Pranger stellt, bekam er ernst zu nehmende Morddrohungen, weshalb er Tag und Nacht 2 Bodyguards zur Seite hat.
Bevor die Lektorin anrief, hatte ich bei Peaberries einen Espresso getrunken und Spiegel gelesen, und zwar ausgerechnet einen langen Artikel über ihn und seinen Gedichtband. (Bis dahin wusste ich nicht, dass der übersetzt ist.)
Der langen Vorrede kurzer Sinn: Ich habe zugesagt. Ich tät es versuchen.
Dann musste ich das Teil erst mal finden! Na gut, auch das war dann erledigt – im Original 66 Zeilen! Das ist verdammt lang.
Schließlich schrieb mir der Journalist, er bräuchte es bis um 10 Uhr am nächsten Morgen. Da war es schon halb sieben Freitagnachmittag.
Na, Du kannst dir das ja vorstellen, dann fährt man irgendwie das System hoch, sozusagen von Null auf Hundert in vier Sekunden, und legt los.
Bis nachts um 1 hatte ich es soweit, dass mir nix mehr einfiel.
Am nächsten Morgen bin ich drüber gegangen und dann noch einmal mit einer befreundeten Kollegin, da haben wir noch 5, 6 Stellen angeschaut.
Damit hatte das Ganze seinen Feinschliff, und ich habe es pünktlichst losgeschickt.
Naja, was soll ich sagen, am nächsten Morgen habe ich sofort beim Bäcker die Sonntagszeitung gekauft und noch im Laden aufgeschlagen. Ich hatte angenommen, der Journalist würde daraus ein paar Zeilen zitieren und in seinen Artikel einflechten. Pustekuchen. Neben dem Artikel ist das Gedicht in voller Länge abgedruckt.
Wow! Da war ich wirklich aus dem Häuschen.
Allein von der Anstrengung war ich eh etwas neben der Spur, aber das dann noch oben drauf!
Und ich hatte am Freitag beim einem Telefonat mit eben jener befreundeten Kollegin geklagt, dass ich mal wieder eine übersetzerische Herausforderung bräuchte. Voilà! Da hat wohl wer zugehört…
Das Gedicht heißt „Preisverleihung in Kiew“ weil Yahya Hassan statt sich den Literaturpreis der Zeitung Politiken verleihen zu lassen, kurz entschlossen nach Kiew gefahren ist.
YAHYA HASSAN – PREISVERLEIHUNG IN KIEW
DAS RATHAUS IST LEICHENHAUS GEWORDEN
EINE FRAU WEINT AM TISCH DER TOTEN
UKRAINER UND RUSSEN SCHNARCHEN MIT HUNDEN
PRIESTER FECHTEN FIEBERHAFT MIT KREUZEN
EIN BAUER BULLDOZTE DIE POILIZEIKETTE
DAS VOLK DRÄNGTE SICH IN DEN VORDERGRUND
DIE AUTORITÄT WAR AUSSER SICH
DER EUROPAREDAKTEUR DER ZEITUNG POLITIKEN
SASS MIT SCHUSSSICHERER WESTE IN SEINEM FÜNFSTERNEHOTEL
UND BERICHTETE VOM FENSTER AUS
DER JUNGGESELLE VOM EKSTRABLAD IST HEIMATLOS
TÜRMTE MIT BLUTENDER HÄMORRHOIDE VOR DEN HECKENSCHÜTZEN
SUCHTE NACH ETWAS ZUM ABWISCHEN
WÄHREND DIE LEBENDEN DIE TOTEN SCHLEPPTEN
FASCHISTEN RUFT DER EUROPAREDAKTEUR
AUF DIE KERLE MIT KNÜPPELN
WILL SIE NICHT OHNE STURMMASKE SEHEN
LASTWAGEN LIEFERN PROVIANT UND BÄUME
KINDER BEISSEN INS BROT
HÖHLENMÄNNER HACKEN BRENNHOLZ
ARBEITER GRABEN GEHSTEIGE AUF
HAUEN AUS PFLASTERSTEINEN WURFGESCHOSSE
FRAUEN SAMMELN SIE IN SÄCKEN
SCHWIELIGE HÄNDE TRAGEN SIE AN DIE FRONT
KAMPFRUFE UND KLAGEGESÄNGE
STRASSENBAHNEN BEFÖRDERN VERWUNDETE
SOLIDARITÄTSGETÜMMEL
MOLOTOWGEBRÄU UND FREIGETRÄNKE
ZELTE
FESTIVALTOILETTEN UND ROSKILDEGERUCH
ABFALLHAUFEN
BETONBARRIKADEN UND BLUMENPFADE
KRIEGSTOURISTEN MIT KAPPEN UND KAMERAS
BERÜHRT ERSCHROCKEN VON DER REVOLUTION
DAS FELDLAZARETT VON LEID BEFLECKT
DIE STADT IST GESTÜRZT ABER DIE GESCHÄFTE STEHEN
RIESENKATAPULT SCHLEUDERT SOFA
PIANIST MIT POLIZEIHELM UND SCHUSSSICHERER WESTE PEINIGT
AUF DEM PLATZ KLAVIER
EIN HECKENSCHÜTZE WIRD GEFANGEN UND GETRETEN
DIE SICHERHEITSKRÄFTE SIND GESCHWÄCHT VERZIEHEN SICH EILIG
AUFMUNTERUNG UND AUFRÜSTUNG
VAGABUND STELLT IN BUDE MUNITIONSAMMLUNG AUS
UND BILDER VON BEGRABENEN
JUGENDLICHE AN CHECKPOINTS
MIT POLIZEISCHILDEN UND POLIZEITSTÖCKEN
SCHUSSSICHEREN WESTEN UND SKIBRILLEN
POLIZEIUNIFORMEN HÄNGEN IM STACHELDRAHT
AUSRÜSTUNG WIRD AUSGETEILT
EIN TRUPP PATROULLIERT IN POLIZEIFAHRZEUGEN
DIE VERKEHRSPOLIZEI HÄLT SICH RAUS
REGIERUNGSGEBÄUDE VON ARBEITSLOSEN BELAGERT UND BEWACHT
AUF LEEREN PANZERN STECKEN FAHNEN
ÖLFÄSSER UND GESCHMOLZENE REIFEN
WÄRMEN DEN WINTER BEIM WODKAPOSTEN
POLITIKERSCHLÄGEREI IM PARLAMENT
KORRUPTER PRÄSIDENT IM BEWUSSTSEIN
KORRUPTER PRÄSIDENT ALS BEFÜRCHTUNG
GESTANDENE ALTE VERTEILEN SUPPE
KEHREN DIE STRASSE UND TROMMELN FÜR RANDALE
JANUKOWITSCH HAT SEINEN PALAST VERLASSEN
IN DER GARAGE GRINST EIN REBELL
LEERT DIE BAR
UND SPIELT AUF DEM GOLFPLATZ EINEN SCHLAG